Es ist vollbracht! Wir sind beim Tierra Arctic Ultra 125 Kilometer über dem Polarkreis gelaufen, ganz im Norden Schwedens. Es war hart, wirklich hart. Der Begriff „Grenzerfahrung“ hat eine neue Bedeutung bekommen. Und das Zeitlimit von 24 Stunden haben wir auch nicht geschafft. Und wisst Ihr was? Das war uns egal! Und wisst Ihr noch was? Es war gigantisch!
Doch von Anfang an:
Wie kann man „Nein“ sagen zu einem Lauf, der so beworben wird:
Welcome to a trailrace north of the arctic circle – Ultra distance in one of the world’s most desolate environments!
Wir sind eher zufällig in den Norden Schwedens und hier an unseren bisher längsten Lauf geraten. Ich hatte bei einem Gewinnspiel mitgemacht. Irgendwann im April flatterte eine Mail in meinen Posteingang: „Welcome to the Tierra Arctic Ultra!“ stand da. Ich hatte zwei Startplätze gewonnen, für Sandra Mastropietro (die gar nichts von meiner Gewinnspielteilnahme wusste) und mich. Innerhalb weniger Minuten stand fest, dass wir uns dieses Abenteuer nicht entgehen lassen und uns für die kürzere Distanz über 100 Kilometer anmelden.
Kurz vor der Abreise haben wir uns entgegen aller Vernunft umgemeldet, um über die 120 Kilometer zu starten. Mit unverändertem Zeitlimit von 24 Stunden und ohne Verpflegungsstellen und Markierungen. Es war klar, dass es hart werden würde.
Die Tage vor der Abreise wurden wir immer nervöser, schrieben Mails hin und her, versuchten uns darüber klar zu werden, welche Ausrüstung die beste sein würde, wie umfangreich zudem die Verpflegung sein müsste. Die Strecke, die wir nun in eigentlich 24 Stunden zu bewältigen haben, wird im Treckingführer als 6-8-Tagestour „für Geübte“ empfohlen.
Nach einem tollen ersten Abend in Kiruna, der nördlichsten Stadt Schwedens, und einer weitgehend schlaflosen Nacht, die ohnehin um 2.45 Uhr beendet war, holte uns am Renntag um 4 Uhr morgens ein Bus ab und brachte uns in etwa einstündiger Fahrt nach Nikkaluokta. Hier konnten wir unser Gepäck aufgeben, bekamen einen ersten Eindruck von der Aggressivität schwedischer Mücken (und der relativen Nutzlosigkeit des besten Anti-Mücken-Spays) und warteten aufgeregt auf den Start.
Dann traben wir los, langsam, schließlich müssen wir mit unseren Kräften haushalten. Bis sich die beiden Strecken erstmals trennen, sind noch viele der 100-Kilometer-Läufer hinter uns.
Dann geht es für uns nach rechts, 8 Kilometer bergan zum Checkpoint Tarfala, der zugleich Wendepunkt ist. Die Strecke ist anspruchsvoll, felsig, es ist nicht immer klar zu erkennen, wo wir genau laufen müssen. Nach relativ kurzer Zeit kommen uns die schnellen Läufer schon wieder entgegen. Wir freuen uns wahnsinnig, als uns Carsten Stegner als erster entgegen kommt, und als Zweiter (später Dritter) Vorjahressieger Carsten Schneehage.
Kurz vor dem Checkpoint verlieren wir in einem Schneefeld recht viel Zeit, in das Sandra unglücklich einbricht und sich dabei verletzt. Zuerst denken wir, sie habe sich „nur“ einen Bluterguss im Knie zugezogen, später stellt sich jedoch heraus, dass es vor allem der Knöchel ist, der Probleme bereitet: Sie hat sich die Bänder gedehnt und eine Kapsel gerissen, als sie vor einen Felsen unten im Schneefeld gekracht ist.
Diese 16-Kilometer-Schleife kostet uns wahnsinnig viel Zeit, oft denke ich während des Laufes, dass wir die 100-Kilometer-Strecke vielleicht im Zeitlimit geschafft hätten und frage mich, ob es ein Fehler war, umzumelden. Letztlich komme ich aber immer wieder zu dem Ergebnis: Nein, das war es nicht. Dieser Umweg ist so unendlich schön, die Gletscher oben am Checkpoint so beeindruckend, die Landschaft wirkt nahezu irreal. Dafür hat es sich gelohnt, hierher zu kommen, allein dafür!
Zurück auf der gemeinsamen Strecke sind die Läufer der „Kurzdistanz“ über 100 Kilometer natürlich auch alle schon lange weg. Danks Sandras Garmin, auf die ein Kollege den Track gespielt hat, finden wir meist recht schnell den Weg, akzeptieren aber bald, dass wir die 24 Stunden nicht schaffen werden. Und beschließen, dass das in Ordnung ist, dass wir die Landschaft in uns aufnehmen möchten, das hier wirklich erleben und nicht durchhetzen möchten. Und so laufen wir weiter, oft müssen wir gehen, das Gelände ist anspruchsvoll, die Fußgelenke müssen wahnsinnig viel leisten.
Doch entschädigt die irrsinnig schöne Szenerie für alles. Immer wieder bleiben wir stehen und schauen uns um, staunen über diese Naturschauspiele. Verstärkt werden die Eindrücke noch dadurch, dass es hier oben, über dem Polarkreis, im August einfach sehr lange hell bleibt. Durch wunderschönes Dämmerlicht laufen wir sehr lange der langsam untergehenden Sonne hinterher.
Die Verpflegung funktioniert gut, eine Mischung aus Gels und Riegeln, Nüssen und Rentier-und Elchchips (ja, schwedische Outdoor-Verpflegung, funktioniert super!) hält uns bei Kräften, Wasser ist ohnehin kein Problem: Ständig laufen wir neben Seen oder Bächen, so natürlich war meine Wasserversorgung während eines Ultralaufs noch nie.
Allerdings laufen wir auch ständig durch das Wasser hindurch. Immer wieder können wir zwar über lange Holzstege, die sich durch das Gelände ziehen und uns vor dem sumpfigen und nassen Boden schützen, laufen. Doch oft, mit der Zeit allzu oft, müssen wir durch das kalte Wasser hindurchlaufen, queren Bäche und kleinere Flüsse. Unsere Füße sind dauerhaft nass, können nicht trocknen.
125 Kilometer sind lang. Irgendwann fängt es an, weh zu tun, vor allem bei der armen Sandra mit ihrem verletzten Knie und Knöchel. Die letzten 50 Kilometer müssen wir daher komplett gehen. Und das wird dann wirklich lang. Irgendwann nach 23 Uhr wird es doch dunkel, es fängt an zu regnen und wird windig. Jetzt haben wir die komplette Pflichtausrüstung an der Frau: Stirnlampe, Mütze, Handschuhe, winddichte Hose, Fleecejacke als Zwischenschicht und Regenjacke.
Irgendwann am nächsten Morgen, wir laufen bzw. gehen immer noch, fange ich trotz dieser umfangreichen Kleidung an zu frieren. Ich zittere und das wird durch ständiges kaltes zu durchquerendes Wasser nicht besser. Wir sind seit 26 Stunden unterwegs, kein Anzeichen von Zivilisation ist zu sehen, wir sind müde, uns ist kalt und irgendwie kommen wir nicht von der Stelle. So fühlt es sich zumindest an.
Dann sehe ich plötzlich Häuser. Später Autos und Wohnwagen. Toll! Nur – all diese Dinge gibt es nicht wirklich, Sandra sieht sie nämlich nicht. Ich habe schon oft darüber gelesen, dass Ultraläufer durch diese Kombination aus Überanstrengung und Übermüdung Halluzinationen bekommen können. Da kann ich jetzt mitreden…. Das war ziemlich abgefahren, ging aber zum Glück nach einigen Stunden auch wieder weg. Vorher habe ich der hinter mir humpelnden Sandra immer zugerufen, was da gleich kommt – dann war Stille und nach einem Moment teilte Sandra mir mit, dass da nichts ist. Auch eine Erfahrung!
Es zieht sich ganz furchtbar, es ist hart, es ist grenzwertig und wir sind irgendwann wirklich am Ende unserer Kräfte. Füße, die immer nass sind, sind irgendwann nicht mehr gut…. Sandras Knie und Knöchel müssen die Hölle gewesen sein, sie ist meine persönliche Heldin, dass sie das durchzieht. Und auch ich habe an diversen Stellen Schmerzen. Aber es ist unglaublich, was wir zu leisten imstande sind. Es geht weiter, auch wenn wir denken, es ginge nicht mehr, wirklich nicht. Am letzten Checkpoint bekommen wir einen Tee und ein Brot und die Nachricht, jetzt seien es noch 17 Kilometer.
17 Kilometer können wahnsinnig lang sein. Doch wir kommen an, irgendwann dann doch. Zwischendurch verlaufen wir uns noch, eine kleine Extrarunde, als wir das wirklich nicht mehr gebrauchen können. Aber dann sind wir da. Nach mehr als 32 Stunden. Da ist das Ziel. Und Carsten und Carsten, die in für uns unvorstellbaren 14:17:16 bzw. 15:54:06 Stunden gefinisht haben, sind da und feiern uns. Das tut so gut!
In der Ergebnisliste sind wir nicht aufgeführt, weil alle, die länger als 24 Stunden unterwegs waren, als DNF gewertet wurden (nur drei Frauen haben es im Zeitlimit geschafft) – aber die Finishermedaille und das wohl wertvollste Finishershirt EVER EVER EVER haben wir bekommen. We did it!!!!
Und, da ständig Leute in den letzten Tagen gefragt haben: Ja, wir würden es wieder tun 🙂 🙂 🙂
Wir haben in den Tagen vor dem Rennen und auch, während wir in Schweden waren, so viel Unterstützung und Zuspruch auf verschiedenen Wegen erfahren, dass war unglaublich und hat uns so viel bedeutet! Danke an Euch alle, die Ihr diese Zeilen lest, dafür!!!
Danke an Carsten Stegner und Carsten Schneehage für tolle Tage in Schweden und den besten Empfang in Abisko, den wir uns nur vorstellen konnten – und den Schnaps für die zitternden Mädels…
Danke an unsere phantastischen Ausrüster ASICS und das Team der ASICS Frontunner und SZIOLS Sportsglasses!
Außerdem hat uns beim Tierra Arctic Ultra PowerBar mit gaaaanz viel Energie unterstützt (die war auch nötig), und pjur active hat uns davor gerettet, uns auf diesem langen Weg wundzuscheuern (und es hat wirklich geklappt!).
DANKE!!!!
Eine ausführliche Reportage über unsere Abenteuer in der nordschwedischen Wildnis wird in der nächsten Ausgabe des Printmagazins laufen.de erscheinen.