70 Kilometer standen uns beim “Langen Marsch” bevor – ich war mir sicher, wenn ich diese vierte und längste überstehe, dann schaffe ich die letzten beiden Etappen beim Gobi March in der Mongolei auch.
Über die ersten drei Etappen habe ich kürzlich hier bereits berichtet.
Weiter geht´s!
4. Etappe: The Long March to the Orkhon Valley – 70,1 km mit 1297 Höhenmetern im Auf- und 1129 Höhenmetern im Abstieg
Die Wüstenrennen von Racing the Planet haben immer einen sogenannten Langen Marsch. Der ist heute und der Tag beginnt ein bisschen absurd. Überall stehen Läufer um Feuer herum und halten ihre Schuhe, Socken oder Bustiers (letzteres nur die Läuferinnen, soweit ich es verfolgen konnte) auf ihren Stöcken über die Flammen. Wir reden über „Ultrarunner´s barbeque“. Besser nach Rauch stinken als klitschnass zu starten. Außerdem verdrängt der Rauch ja vielleicht auch ein bisschen sonstige Gerüche, die sich nach inzwischen drei Etappen und vier Nächten ohne Dusche in den immer selben Klamotten so breit machen 🙂
Wie geht man in eine 70 Kilometer lange Etappe, wenn man schon etwa 130 Kilometer in den Beinen hat? Meine Taktik: sehr langsam und bedächtig. Auf den ersten Kilometern merke ich, dass diese Taktik heute sehr viele nicht verfolgen. Mich überholen auf den ersten Kilometern Läuferinnen und Läufer, die ich in den ersten Tagen nie gesehen habe, weil sie weit hinter mir waren. Was ist denn da los? Ich wundere mich. Kann und will aber gerade bei den fiesen Anstiegen zu Beginn dieser Etappe nicht anders. Ruhe bewahren, einige von denen sehe ich bestimmt später wieder.
Ich quäle mich, gefühlt geht es ständig bergauf. Es ist hart, immer mal wieder in diesen Tagen, heute besonders. Ich habe ein Tief, ein kleines, aber immerhin. Da höre ich, an einem steilen Anstieg hoch zum zweiten Checkpoint, Antje hinter mir: „Hi Andrea!“ Antje, die letztes Jahr trotz ihrer fiesen Krankheit Lipödem in der Namib so ein grandioses Rennen abgeliefert hat, inzwischen einige Operationen über sich ergehen lassen hat und nun viel schneller unterwegs ist als im Vorjahr. Ich freue mich, sie zu sehen, berichte ihr, dass ich gerade irgendwie echt nicht den Berg raufkomme. „Keine Sorge, die ersten beiden Streckenabschnitte heute sind die mit den meisten Höhenmetern, habe ich mir extra heute Morgen nochmal angeschaut. Das haben wir also gleich geschafft“, beruhigt sie mich. Ich bin erleichtert. In der Tat folgt nach dem Checkpoint ein lang gezogener Downhill, endlich kann ich wieder vernünftig laufen. Da Antje kurz darauf wieder zu mir aufschließt, beschließen wir, solange es passt, zusammen zu laufen. Das machen wir und nach und nach sammeln wir einige von denen, die mich morgens so überrascht haben, wieder ein.
Zu zweit geht die Zeit schneller vorbei, wir kommen gut voran, der vierte Checkpoint bei Kilometer 40 ist psychologisch wichtig: mehr als die Hälfte geschafft, nur noch 30 Kilometer und zwei Checkpoints. Meine Socken, die ich extra für die lange Etappe am Morgen frisch angezogen habe, sind offenbar etwas zu weit und beginnen zu scheuern. Mist, ich merke, wie sich unter meinen Füßen Blasen bilden. Da muss ich jetzt durch.
Zwischendurch feuern uns Kinder an, das ist schön und motiviert.
Am vorletzten Checkpoint müssen wir schon unsere blinkenden Rücklichter anmachen und die Stirnlampen aufsetzen, damit wir gerüstet sind für die bald einsetzende Dunkelheit und von den Jeeps, die ständig auf der Strecke unterwegs sind, gut gesehen werden.
Nun zieht es sich. Wir wechseln zwischen Gehen und Laufen, Antje ermuntert mich mehrfach, ohne sie weiterzulaufen, aber jetzt sind wir schon so weit zusammen gekommen, jetzt können wir auch zusammen ins Ziel laufen. Finde ich. Außerdem ist es keineswegs so, dass mir gerade danach ist, schnell durch die Gegend zu rennen…
Irgendwo zwischen Kilometer 50 und 60 sehe ich oben auf dem Berg ganz viele Kamele und freue mich darüber. Dann trotte ich weiter. Antje trottet auch. Der letzte Checkpoint kommt früher als erwartet, das macht Mut. „Endspurt“ im inzwischen erreichten Orkhon-Tal, das nach dem gleichnamigen Fluss benannte Gebiet, das zum UNESCO-Weltnaturerbe erklärt wurde.
Wir sehen nicht mehr viel von der landschaftlichen Schönheit. Die letzten zehn Kilometer sind mindestens zwölf Kilometer lang und ziehen sich endlos. Nach unserer Berechnung müsste das Camp längst schon da sein. Es wird dunkel. Inzwischen sind wir am Fluss und im Sumpfgebiet, müssen im Dunkeln durchs Wasser, tapsen durch den Schlamm.
Sumpf, stehende Gewässer, Stirnlampe: Deren Schein lockt Tausende Moskitos an, für die wir schwitzenden Läuferinnen ein im wahrsten Sinne des Wortes gefundenes Fressen sind. Ich schlage um mich, versuche mich nicht mit meinen eigenen Stöcken zu erwischen, versuche zugleich, die Markierungen, die uns den nicht vorhandenen Weg weisen sollen, nicht zu übersehen und nicht über Unebenheiten zu stolpern oder in Schlammlöcher zu fallen. Dies alles zusammen macht uns so aggressiv, dass wir am Ende, obwohl wir völlig fertig sind, noch mehrere Läufer überholen. Immerhin! Nach 11:37 Stunden laufen wir, gemeinsam mit vielen, vielen Moskitos, ins Ziel ein.
Geschafft! Und wir wissen, wenn wir den Langen Marsch geschafft haben, schaffen wir auch den Rest. Nun ist es wichtig, ohne Stirnlampe ins Zelt zu gelangen, um den Moskitos nicht auch noch diesen Weg zu weisen. Es juckt, ich bin zerstochen. Ich ziehe warme Sachen an und gehe mit einer warmen Mahlzeit zum Feuer. Mir ist überhaupt nicht nach Essen, ich weiß aber, dass das jetzt wichtig ist, zumal ich auf der langen Etappe nicht viel gegessen habe. Also versuche ich, mir ein Rührei aus der Tüte hineinzuwürgen. Dann beginnt der Regen. „Das Wetter kann in der Mongolei in dieser Jahreszeit sehr schnell radikal umschlagen.“ Stimmt. Es schüttet so sehr, dass meine Daunenjacke von den paar Metern zum Zelt schon völlig durchnässt ist. Zähne putzen und Toilette müssen verschoben werden, ich hocke im Zelt und versuche, warm zu werden. Ich verkrieche mich in meinen Schlafsack.
Ich bin die einzige aus meinem Zelt, die bisher da ist. Es schüttet so sehr, dass wieder die Plane über das Zelt gespannt wird. Nun blitzt und donnert es. Heftig. So heftig, dass mir schon mulmig wird, obwohl ich im Zelt liege. Die anderen sind alle noch draußen, auf der Strecke! Ich mache mir Sorgen, hoffe, dass alle sicher ins Ziel kommen. Irgendwann höre ich Stephan draußen, der unser Zelt sucht, das durch die übergeworfene Plane nicht mehr zu erkennen ist. Ich rufe ihn. Er war mit Dörte mitten im schlimmen Gewitter unterwegs, sie hatten schon überlegt, ihre Stöcke wegzuwerfen, sind wie die Verrückten gerannt und zum Glück gut ins Ziel gekommen. Er berichtet, dass einige Zelte komplett unter Wasser stehen, zwei Jurten sind beheizt, dort können sich die nassen Läufer umziehen und aufwärmen. Bald danach kommen zum Glück auch die anderen aus unserem Zelt.
Bis morgens hören wir die Trommel, viele Läuferinnen und Läufer kommen erst mitten in der Nacht oder in den frühen Morgenstunden, waren stundenlang in Regen und Gewitter unterwegs. Was die da draußen geleistet haben, erscheint mir unglaublich, ich bin voller Bewunderung für diese Helden. Diese Nacht hat uns gezeigt, wie extrem das Land tatsächlich ist, und wir bekommen ja nur einen winzigen Ausschnitt zu spüren. Dies hier ist ein Land der Extreme, und die Nomaden haben wahrlich kein leichtes Leben. Ein eisiger, monatelanger Winter herrscht hier, Ulaanbaatar ist die kälteste Hauptstadt der Welt, alle paar Jahre gibt es den Dzud genannten Katastrophenwinter, der bei langen Schneefällen so kalt ist, dass Millionen von Tieren verenden und die Viehzüchter ihr gesamtes Vermögen verlieren. Dagegen ist unser extremes Wetter gerade gar nicht so schlimm, denke ich mir.
Als ich am nächsten Morgen im Regen mit komplett durchgeweichten Schlappen durch den Schlamm schlurfe, treffe ich einen der Ärzte, zeige ihm meine Blasen. Er sagt, ich solle sie aufstechen und dann vor alle dafür sorgen, dass die Füße trocken und sauber bleiben, später könne ich sie dann tapen. Wir schauen uns um, blicken auf meine Füße, die in einer schlammigen Pfütze stehen und müssen lachen. Trocken und sauber halten, ist klar. Zurück im Zelt steche ich die Blasen erst mal auf, der Rest kommt später.
Kurz danach die Nachricht: Das Wetter soll schlecht bleiben, der Veranstalter hat einen Plan B: In 45 Minuten sollen wir alles eingepackt haben, wir werden zu einer Sporthalle gebracht, in der wir den freien Tag trocken verbringen und auch unsere Kleidung trocknen können. In einer solchen Situation macht sich die perfekte Organisation von Racing the Planet, die mit etwa 80, davon vielen lokalen, Helfern hier unterwegs sind, sehr bemerkbar. Es gibt einen Plan B, es gibt die Busse. Wir packen zusammen, Stephan gibt mir rasch Pflaster für meine aufgestochenen Blasen (sauber und trocken halten, ihr wisst schon….), und dann eilen wir durch den Schlamm zu den Bussen.
Schon mal mit Bussen durch tief unter Wasser stehendes Sumpfgebiet gefahren? Ich schwanke zwischen Erleichterung, dass ich da gerade nicht durchlaufen muss und der Befürchtung, dass wir gleich entweder stecken bleiben oder umkippen. Zwei Busse bleiben in der Tat stecken, müssen heraus gezogen werden, aber nichts passiert. Wir werden nach Karakorum gebracht, der bedeutenden historischen Stadt, in der zwei Tage später auch das Ziel sein wird. Der neue Teil der Stadt ist allerdings ernüchternd trostlos, steht weitgehend unter Wasser und kann in meinem Kopf so gar nicht mit dem klangvollen Namen verbunden werden. Das gelingt zum Glück zwei Tage später, aber ich will nicht vorgreifen.
Es gibt im Ort jedenfalls eine erstaunlich moderne und große Sporthalle mit Zuschauertribünen und viel Platz. Auf dem Hallenboden sind unsere Zelte markiert, so dass jeder einen Platz zusammen mit denjenigen findet, mit denen er/sie bereits die letzten Nächte verbracht hat. Nur fehlen jetzt die Zeltwände. Es tut gut, im Trockenen zu sein. Schnell sind das Volleyballnetz und sämtliche Sitze auf den Tribünen belegt: Laufshirts und –shorts, Socken, Jacken hängen überall.
Es gibt nun plötzlich Toiletten und fließendes Wasser, sonst ist alles wie vorher: Wir bekommen heißes Wasser für unsere Mahlzeiten, werden daran erinnert, dass wir uns mitten in einem selbst versorgten Rennen befinden und also nichts im Laden kaufen dürfen.
Dafür am Nachmittag dann eine Überraschung: Als der Regen aufhört, werden wir eingeladen, auf die große Wiese vor der Halle zu kommen. Naadam, ein großes Spektakel, dass eigentlich im Juli stattfindet, aber auch mal zu Hochzeiten oder sonstigen Anlässen veranstaltet wird, gibt es nun für uns: Naadam bedeutet Spiel, Wettspiel und Fest und hier messen sich die Menschen im Ringen, Bogenschießen und beim Pferderennen. Das Pferderennen wird heute, so wird uns mitgeteilt, wegen der schlechten Wetterbedingungen gestrichen (immerhin finden sogar die Einheimischen dieses Wetter wirklich schlecht…), aber für uns wird zuerst gesungen und getanzt, dann kommen Ringer in ziemlich knappen Höschen, und die traditionellen, nach einem bestimmten Muster ablaufenden Kämpfe beginnen. Einige Meter weiter findet Bogenschießen statt. Ich staune, wundere mich darüber, dass ich vor ein paar Stunden noch in einem nassen Zelt gelegen habe und nun vor einer Sporthalle stehe und mongolischen Ringern zuschaue. Verrückt das alles!
Am Abend alles wie immer, nur dass das Licht länger an bleibt: Essen, Zähne putzen, hinlegen. Ich liege nun also mit etwa 230 Läuferinnen und Läufern und Teilen der Crew in einer Sporthalle, alle haben ihre stinkenden Laufsachen aufgehängt, die Luft ist dementsprechend, die meisten reden noch, außerdem riecht es nach Essen, weil alle gerade ihr Tütenessen verspeist haben – und das Verrückte ist: Ich liege hier auf meiner Matte, in meinem Schlafsack und finde es unglaublich gemütlich. Ich bin dem Veranstalter dankbar, dass ich hier im Trockenen liege, nicht auf eine komplett durchgeweichte und vollgelaufene Latrine gehen muss. Trockenheit statt ständiger Nässe, das bedeutet gerade puren Luxus.
5. Etappe: The Battle Grounds of Ghenghis Khan – 30,5 km mit ca. 520 Höhenmetern im An- und 460 Höhenmetern im Abstieg
Da die geplante Querung des Orkhon, die eigentlich den Beginn dieser Etappe markiert hätte, aufgrund der in den letzten Tagen herunter gekommenen Wassermassen nicht mehr sicher möglich gewesen wäre, wurde der erste Teilabschnitt der Etappe gestrichen und für uns stehen 30,5 statt 38,5 Kilometer auf dem Programm. Meinen von einem Mitglied der Medical Crew in liebevoller Arbeit versorgten und getapten Füßen und mir ist es recht. Mit Bussen werden wir zum verlegten Start gebracht. Die Sonne scheint, als wäre nichts gewesen in den letzten beiden Tagen. Auch das ist extrem: Heute brennt die Sonne so stark vom Himmel, dass einige Läufer auf ihren Sonnenbränden Blasen bekommen. Uns wird noch mit auf den Weg gegeben, dass uns im Ziel eine Überraschung erwartet. Wilde Spekulationen, ich tippe auf eine Dose Cola.
Es geht los. Anfangs laufend, dann geht es bergauf und die meisten marschieren. Ich auch. Irgendwo vor dem ersten Checkpoint höre ich hinter mir eine Stimme: „Hey, ich glaub es nicht, das ist ja Andrea!“ Dörte und Stephan überholen mich. Zum ersten Mal, die beiden sind offenbar im totalen Flow. Fein, ich gönne es ihnen, frage mich allerdings, ob die beiden nun so schnell sind heute oder ich so langsam? „Zur Sicherheit“ mache ich meine Ohrstöpsel rein und höre Musik. Ich höre sehr, sehr selten beim Laufen Musik, wenn ich es denn mal mache, pusht es mich daher tatsächlich. Die Playlist hatte ich schon in Mosambik dabei. Alles ist sehr emotional plötzlich und wunderschön. Ich grinse dämlich in die Gegend und freue mich.
Ich freue mich an der Landschaft, an der Sonne, daran, dass immer wieder einer meiner Mitläufer was Nettes sagt. Es dauert gar nicht so lange, bis ich Dörte und Stephan wieder eingeholt habe. Und weiter geht es. Puh, bergauf fällt mir heute mal wieder schwer. Aber dann kommt er, der wunderbare lang gezogene Downhill. Hatte ich schon erwähnt, dass ich fliegen kann? Es ist erstaunlich, wie nah Leid und pure Glückseligkeit bei einem solchen Lauf beieinander liegen können. Sehr nah, wirklich.
Heute sehen wir sogar Bäume, die gab es die Tage vorher in der Steppe fast nie. Und dann laufen wir sogar unter Bäumen, also quasi in einem Wald, das verwirrt mich geradezu. Auch danach wirkt es teilweise ein bisschen wie in der Schweiz, überall stehen Rinder auf der Wiese herum. Nur gibt es statt Hütten Jurten. Da ich die Woche ordentlich Strom gespart hatte, lasse ich heute das GPS meiner Uhr mitlaufen und weiß daher, dass es nicht mehr weit bis zum Ziel ist. Und irgendwann sehe ich es in der Ferne: das letzte Camp. Davor sehe ich allerdings – einen ziemlich breiten Fluss. Ach herrje, da soll ich durch? Ich habe nichts gegen Flussquerungen, es gab ja nun schon einige, aber das sieht nach ziemlich viel Wasser aus.
Dann sehe ich die Boote. Die Überraschung!!! Keine Cola, wir werden mit Schlaubooten über den Fluss gebracht. Die Entscheidung dazu fiel offenbar erst am Morgen, die Strömung im Fluss war durch die Regenfälle zu stark geworden, normalerweise hätten wir da durch gemusst. Stattdessen wird unsere Zeit nun schon an dieser Uferseite genommen und wir warten auf das Boot. Gabi steht hier und wartet, kurz hinter mir kommen schon Stephan und Dörte, direkt danach Antje. Rucksäcke ab, Rettungswesten an und in die Boote. Die Ärzte aus dem Medical Team haben die Paddel in der Hand und bringen uns auf die andere Seite. Wir steigen aus und marschieren ins Camp. Sehr, sehr cooler Zieleinlauf.
Und was für ein wunderbares Camp! Am Fluss, inmitten einer wunderbaren sanften Berglandschaft! Die Sonne scheint, ich bin einfach nur glücklich. Als ich vor meinem Zelt sitze und meine getapten Füße vorsichtig aus meinen Schuhen ziehe, kommen zwei aus dem Medical Team mit einer Kanne. Ob wir probieren möchten, das sei ein Geschenk von den Locals hier. Da ist sie, die berüchtigte sauer vergorene Stutenmilch. So etwas wie das mongolische Nationalgetränk. Wird auch Pferdebier genannt, hat etwa fünf Prozent Alkohol. Ich bin skeptisch, hatte im Vorfeld gelesen, dass nicht jeder Tourist das gut verträgt. Andererseits probiere ich ja alles immer sehr gerne aus, außerdem, hey, mir wird das gerade von zwei Ärztinnen angeboten! Sie versichern mir, dass das Helferteam das Zeug seit Tagen trinkt. Also versuche ich es auch. Sauer, ungewohnt, aber irgendwie gut, zumindest in einer wohl dosierten sehr kleinen Menge. Und so habe ich mit Antje, die es auch versucht, immerhin darauf angestoßen, dass wir soeben die letzte längere Etappe geschafft haben.
Den Rest des Tages liegen wir in der Sonne. Einfach nur herumliegen, es ist herrlich. Manchmal schaue ich auch in die Landschaft, das ist aber auch schon das Höchstmaß an Aktivität, das ich noch hinbekomme. Fotos machen wir auch noch.
Später am frühen Abend gibt es dann noch einen sehr emotionalen Moment. Der Schwede Gunnar, der bei jeder der 15. Austragungen des Gobi March dabei war und entsprechend schon etwas älter ist, nähert sich als letzter Finisher, offenbar mit furchtbaren Blasen und vor Schmerzen gekrümmt, auf der anderen Seite des Flusses. Alle Läuferinnen und Läufer versammeln sich am Ziel und jubeln dem sichtlich bewegten Gunnar zu, als er endlich die Ziellinie überquert.
6. Etappe: The Final Footsteps to the Ancient City of Karakorum – 9,4 km, 80 Höhenmeter im Auf- und 104 Höhenmeter im Abstieg
Es ist so weit! Die letzte Etappe! Sie ist so kurz, dass jeder, der es bis hierher geschafft hat, auch finishen wird. Da uns nach der kleinen Siegesfeier im Ziel eine siebenstündige Busfahrt bevorsteht, starten wir heute schon um 7 Uhr. Der Sonnenaufgang im Camp ist wunderschön.
Das Tape an meinen Füßen hat am Vortag gehalten und die Ärztin rät mir, es dran zu lassen und erst nach dem Ziel, in einem sauberen Badezimmer, alles abzureißen und zu säubern. Daher macht es mich etwas nervös, dass wir zu Beginn der letzten Etappe definitiv wieder einen Fluss queren müssen. Hält das Tape, auch wenn es nass ist? Morgens, eine knappe halbe Stunde vor dem Start, bekommen wir gesagt, dass jeder in Ruhe den Fluss auf seine/ihre Art queren soll und der Start erst auf der anderen Seite erfolgen wird. Wer will, kann also die Schuhe ausziehen, durchgehen und mit trockenen Schuhen in die letzte Etappe (und die lange Busfahrt) starten. Ich verwerfe das für mich. Wenn ich barfuß durchwate und dann Strümpfe und Schuhe wieder anziehen muss, ist das Tape spätestens verrutscht. Also durch, wenn auch etwas skeptisch!
Alles hält prima, die Füße sind nass, aber Strümpfe und Schuhe halten alles beisammen.
Und los geht es, auf die letzten knapp zehn Kilometer! Alle sind schneller unterwegs als in den letzten Tagen, aber das ist angesichts der Streckenlänge und des nahen Ziels vor Augen normal. Ich laufe weite Strecken mit Evelijn aus den Niederlanden, die gerade dabei ist, ihr erstes derartiges Etappenrennen zu finishen. Wir genießen es, es geht erst einen letzten Anstieg hoch, oben ist ein kleiner Tempel und dann ist plötzlich unten die aus dieser Perspektive große Stadt zu sehen. Und damit das Ziel.
Es geht hinab, wir laufen, strahlen um die Wette. Auf der Straße durch Karakorum zieht es sich noch etwas, doch dann nähern wir uns dem Kloster Erdenezuu, in dem vor dessen Zerstörung im Jahr 1937 durch mongolische Truppen einmal 10.000 Mönche lebten. In den 1990er Jahren begann hier wieder ein kleiner Klosterbetrieb, immerhin. Wir sehen die Mauern des quadratischen Tempelbezirks mit ihren insgesamt 102 Stupas, laufen auf einem kleinen Pfad um die Anlage herum.
Vor dem Tor ins Kloster werden wir gestoppt, geben die Zeitnahmechips ab und dürfen dann einlaufen. Ein großer Moment. Ein buddhistischer Mönch hängt mir meine Medaille um, ein noch größerer Moment. Er schüttelt meine Hand. Dass mir ein buddhistischer Mönch eine Medaille nach einem Lauf um den Hals hängt und mir gratuliert, wird mir möglicherweise nie wieder passieren.
Nach insgesamt 37 Stunden, 6 Minuten und 47 Sekunden bin ich in Karakorum ins Ziel gelaufen. Ich bin 15. Frau und auf Platz 60 insgesamt, aber das sind nur Zahlen. Ich bin glücklich. Sehr glücklich. Immer wieder kommen mir die Tränen, wenn ich mich in der Tempelanlage umschaue, mir bewusst mache, dass ich genau hier eben ein siebentägiges Rennen beendet habe.
Ich falle anderen der insgesamt 216 Finisher um den Hals, vor allem auch den anderen aus dem Little Desert Runners Club. Bis auf Angela, die leider am fünften Checkpoint des Langen Marsches nach einem unglaublichen Kampf aussteigen musste, haben es alle geschafft. Angela hat bis dahin vermutlich mehr gekämpft und geleistet als manch einer, der hier gefinisht hat, ich ziehe meinen Hut vor ihr. Und ihr nächstes Rennen schafft sie dann. Tanja hat bei ihrem Etappenrennen-Debüt einen unglaublichen fünften Platz bei den Damen und Altersklassen-Sieg hingelegt, letzteres hat Rafael auch geschafft, aber das hat er eh abonniert.
Alle wären hier zu nennen, alle, die sich nur getraut haben, an der Startlinie eines solchen Rennens zu stehen, haben Großartiges geleistet. Unsere „Rookies“ sind ins Ziel gekommen. Dörte, die im letzten Jahr in Namibia in der langen Etappe ausgestiegen ist, hat es diesmal souverän geschafft. Sascha Gramm hat sein erstes derartiges Etappenrennen auf dem 14. Rang beendet und war unser schnellster, Hammer! Wie gesagt, ich müsste sie hier eigentlich alle nennen, lasst euch kollektiv umarmen, ihr lieben Little Desert Runners, es war mir ein Fest, mich euch in der Mongolei unterwegs zu sein!!!
Gewonnen hat bei den Damen übrigens die in San Francisco lebende Deutsche Angela Zäh, die in unglaublichen 25 Stunden und 10 Minuten als Gesamtfünfte ins Ziel gekommen ist. Ganz herzlichen Glückwunsch, Angela!!!
Bei den Männern gab es erstmals ein vollständig asiatisches Podium mit Ho Chung aus Hongkong als Sieger, der 20 Stunden und 34 Minuten für die knapp 250 Kilometer benötigte.
Und wir gerade so? Es ist kurz nach 8 Uhr an einem Samstagmorgen in Karakorum, der Hauptstadt des Reiches des Dschingis Khaan. Wir trinken sehr leckeres dunkles Bier und essen Pizza und finden irgendwie alle, dass das das normalste der Welt ist. Gerade jetzt muss es Bier und Pizza sein. Das ist genauso normal um 8 Uhr morgens in Karakorum, wie es normal ist, 250 (bzw. 242) Kilometer durch die Wüste, durch die Steppe oder durch was auch immer zu laufen. Es ist großartig und wir feiern es. Die Feier geht weiter, erst im Bus, dann unter der Dusche (eine Dusche ist nach einer Woche Rennerei etwas so wunderbares, das vergisst man im normalen Leben so leicht…), und am Abend bei der Finisherparty in Ulaanbaator.
Am nächsten Morgen geht es für die meisten von uns zurück Richtung Heimat. Damit beginnt eine Odyssee, die fast so lange dauert wie mein Lauf durch die Steppe, erst nach 36 Stunden bin ich zuhause. Starke Winde über Ulaanbaatar sind der Grund dafür, dass unser Flugzeug Richtung Moskau erst nach 17 Stunden starten kann. Ich sage nur: „Das Wetter kann in der Mongolei in dieser Jahreszeit sehr schnell radikal umschlagen.“
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An dieser Stelle bleibt mir nur noch, ein ganz großes Dankeschön loszuwerden: Wieder einmal an Pascal Trees, der mich diesen ganzen Quatsch einfach machen lässt, an Rafael Fuchsgruber, der mich überhaupt erst in die Wüsten dieser Welt gebracht hat, seine Liebste Tanja Schönenborn, die die Organisation des wilden Haufens so wunderbar hinbekommen hat, obwohl sie sich zugleich auf ihr erstes Etappenrennen vorbereiten musste; an all die lieben Verrückten des Little Desert Runners Clubs: hey, ich vermiss euch!!!
Danken möchte ich aber auch einigen Partnern und Sponsoren, die mir mein Leben während des Laufs in der Mongolei, wie schon bei bisherigen Etappenläufen so viel leichter gemacht haben:
ASICS und hier besonders das Team der ASICS FrontRunner
OMM (Original Mountain Marathon) hat mir dankenswerterweise einen Rucksack zur Verfügung gestellt.
Fotos: privat, Jerry Jeschka, Racing the Planet